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Mein Jakobsweg - Gefunden, was ich gar nicht suchte (Fortsetzung)

  • Autorenbild: Daniel
    Daniel
  • 13. Okt. 2000
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Dez. 2022


Routine kann so schön sein


Ohne das Gefühl zu haben, im Schlaf gestört worden zu sein, wache ich auf. Ich bin hellwach und putzmunter, möchte am liebsten sofort losgehen. Beim Blick auf mein Handy verstehe ich die Welt nicht mehr. Es zeigt 23:30 Uhr an. Ich schlafe erst seit einer Stunde. Plötzlich bemerke ich ein ziehen in den Beinen. Mein Körper teilt mir unmissverständlich mit, dass er die Belastung der letzten Stunden für suboptimal hält. Ich drehe mich um und versuche wieder einzuschlafen. Die Nacht geht in diesem Rhythmus weiter. Immer wieder wecken mich meine schmerzenden Beine, bis es mir um 4:30 Uhr reicht und ich aufstehe. Aus Rücksicht auf die schlafende Ana nehme ich meinen Rucksack und sortiere alles im Gemeinschaftsraum. Da es draußen noch stockfinster ist, habe ich genügend Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Bei Anbruch der Dämmerung mache ich mich auf den Weg.


Die nächsten Tage verlaufen nach der immer gleichen Routine. Einen Fuß vor den anderen setzend, genieße ich die Ruhe, die Sonne und das Meer. Meine Gliedmaßen gewöhnen sich schnell an die Strapazen, die eine Fernwanderung und ungewohnt lange Etappen mit sich bringen. Einzig in Pilgerherbergen kehre ich nicht mehr ein, denn nur noch etwa 5% haben geöffnet und sind teilweise seit Wochen ausgebucht. Also weiche ich auf kleine Pensionen und Hotels aus. Das ist zwar etwas teurer (eine Nacht kostet statt 10-20 Euro zwischen 30 und 40), dafür ist jedoch die Ausstattung um einiges besser.


Schnell gewöhne ich mich an das reduzierte Leben aufgrund meines kleinen Rucksacks. Um auf unnötiges Gewicht zu verzichten, habe ich nur Kleidung für 2 Tage dabei. Jeden Abend wird gewaschen. Hierzu mehr in meinem Beitrag „Wie du dich optimal auf deinen Jakobsweg vorbereitest“.


Plötzlich geht es ganz schnell


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Seit 3 Tagen laufe ich bereits an der Atlantikküste Portugals entlang. Sehnsucht nach anderen Menschen, Gesprächen, einem Anruf in die Heimat oder einem schönen Buch bleibt komplett aus. Ich beginne zu verstehen, was es heißt ‚zu sich zu kommen‘. Ich genieße dieses Gefühl. Nichts bringt mich aktuell aus der Ruhe. Das Bedürfnis nach dem normalen Leben ist nicht vorhanden. Mitten in meine Gedanken versunken, komme ich an den Rio Minho, den Fluss, der Portugal von Spanien trennt. In den letzten Tagen hatte ich sorge, ob ich überhaupt ins Land komme, denn Corona wütet besonders in Galizien stark und es gibt strenge Regeln und Hygienemaßnahmen, die mich als Touristen betreffen. Angefangen bei einem Beherbergungsverbot, welches zum Glück nicht durchgesetzt wird, bis hin zur Maskenpflicht im Freien, da Wandern (auch Pilgern und Extremwandern) nicht als Sportart angesehen wird und die Polizei streng kontrolliert, ob man auch draußen eine Maske trägt. Diese Tatsache hat wohl viele Pilger dazu veranlasst, an der Grenze umzukehren, jedenfalls kommen mir heute einige Menschen mit der Muschel am Rucksack, dem typischen Erkennungssymbol der Pilger, entgegen, die lieber zurück nach Porto laufen. Ich entscheide mich dennoch nach Spanien überzusetzen. Nach einer 30-minütigen Fahrt mit der Fähre komme ich in Spanien an.


Es macht was mit dir

Zwischen Wehmut und Freude


Was ich nicht bedenke, ist, dass Spanien und Portugal in unterschiedlichen Zeitzonen liegen. Portugal ist eine Stunde ‚hinten dran‘, was zur Folge hat, dass ich morgens um die gewohnte Zeit im Dunkeln loslaufe, es allerdings erst eine Stunde später hell wird als die letzten Tage. So weit, so gut. Ungünstig nur, wenn der Weg an diesem Morgen ein unbeleuchteter Pfad ist und nur meine Handy-Taschenlampe ungenügend Licht spendet. Links und rechts befinden sich hüfthohe Büsche, in denen es permanent raschelt. Das wird nur der Wind sein, rede ich mir ein. Ich erinnere mich an ein Schild, das ich gestern gesehen habe: ,Bitte nicht unter freiem Himmel schlafen, da nachts bis zu 75 cm lange Vipern unterwegs sind‘. Ich weiß, dass Tiere mir nichts tun, wenn ich Ihnen auch nichts tue. In meinem Kopf führen Realismus und lebhaftes Vorstellungsvermögen einen erbitterten Kampf. Der Realismus unterliegt und ich laufe deutlich schneller, bis ich nach etwa einer Stunde endlich an einer befestigten Straße ankomme. Dass es seit einiger Zeit regnet, stört mich nicht, doch endlich kann ich anhalten und mich und meinen Rucksack wasserdicht verpacken.


Heute gehen meine Motivation und ich ein unterschiedliches Tempo. Nach den ersten 15 Kilometern und einer kurzen Pause, muss ich mich regelrecht aufraffen, weiterzugehen. Plötzlich fährt neben mir ein Radfahrer und beginnt mir in einer mir fremden Sprache Fragen zu stellen. Ich verstehe nur ‚Camino‘ und ‚Peregrino‘ und reime mir zusammen, dass er mich fragt, ob ich auf dem Pilgerweg bin. Ich nicke, sage auf Englisch, dass ich aus Deutschland komme und seine Sprache nicht verstehe. Er wechselt sofort ins Englische und berichtet mir, dass er auch schon häufiger gepilgert ist. Seine Ausführungen dauern fast 10 Minuten, da verabschiedet er sich wieder. Er müsse weiter. Gesprochen habe ich kein Wort – nur zugehört. Es braucht ein paar Minuten, bis ich verstehe, was hier gerade passiert ist, realisiere jedoch, dass ich genau das gebraucht habe. Ich habe neuen Schwung.


Meine täglich absolvierten Märsche haben zwischen 35 km und 47 km Länge. Bereits am zweiten Tag fiel mir auf, dass die App zwar viele wertvolle Tipps und eine sehr genaue Streckenverfolgung hat, die Kilometerangaben jedoch etwas abenteuerlich sind. Meiner Vermutung nach wird die Entfernung vom Ausgang des einen zum Eingang des nächsten Ortes gemessen. Der Ort selbst wird wohl allerdings nicht mitgerechnet. Das führt dazu, dass ich täglich eine circa 10%ige Abweichung von der geplanten Strecke habe – zu meinen Ungunsten. Schnell wird klar, dass aus den 250 km eher 280 km werden. Diese Differenz, eine fast eintägige Etappe, muss ich also auf die restlichen Tage aufteilen. Zusätzlich drückt sich der Rucksack tiefer und tiefer in meine Schultern und hinterlässt unangenehme Striemen auf der Haut. Bei diesen Märschen aber nicht verwunderlich, rede ich mir ein. Noch vor wenigen Tagen lag mein Rekord bei 26 km am Stück zurückgelegter Strecke. Nun bin ich mittlerweile mehr als 200 km weit gegangen und merke, dass das Geradeauslaufen der ersten Tage ohne Höhenmeter was ganz anderes ist als das stetige Auf und Ab des spanischen Teils der Route. Seit gestern kommen zu den Marathonstrecken bis zu 1.000 Höhenmeter pro Tag hinzu, was mein Körper durchaus be- und kritisch anmerkt. Den Atlantik habe ich seit Tagen nicht gesehen.


Wer mich kennt, weiß, dass ich Struktur und Ordnung liebe. Die Eigenschaften eines Struckis sind besonders dann hilfreich, wenn die Motivation mal zu schwinden droht und sich Disziplinlosigkeit andeutet. Daher laufen meine Tage auch immer nach einem gleichen Muster ab. Mein Gepäck ist morgens innerhalb weniger Minuten verstaut, da ich weiß, wo was hingehört. Dann wird gelaufen. Pausen lege ich ein, wenn es notwendig ist. Habe ich abends eine Unterkunft gefunden, besuche ich eine Einkaufsmöglichkeit in der Nähe und hole mir, was ich für den Abend brauche. Diese regelmäßigen Abläufe geben mir den nötigen Halt, um mich voll und ganz in den Tag, meine Gedanken und die Natur fallen lassen zu können. Ich muss über keine organisatorischen Dinge des Tages nachdenken. Welt aus – Entspannung an. Jeden Abend bin ich stolz auf das Erreichte und habe nach einer zweistündigen Pause meist noch Lust mir das Städtchen anzusehen, in dem ich die Nacht verbringe. Besonders Viana do Castelo, Baiona und Redondela haben es mir angetan. Da kommen zu den eh schon viel gelaufenen Tageskilometern gern nochmal 5 weitere hinzu. Ich freue mich jeden Abend auf den nächsten Tag und das Laufen. Trotz der enormen körperlichen Anstrengung bin ich ausgeruhter, wacher und fitter denn je. Ein schöner Nebeneffekt.


Die letzten Meter


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Gegen 15 Uhr des vorletzten Tages sitze ich in einem gemütlichen Café und beobachte das Treiben um mich herum. Eigentlich möchte ich heute hier schlafen. Allerdings bedeutet das, dass ich morgen auf meiner letzten Etappe etwa 50 Kilometer vor mir habe. Da ich heute erst bei 40 km bin und noch Körner habe, entscheide ich noch eine Stunde zu gehen.


Der letzte Tag. Die letzte Etappe. Zeit für ein Resümee. Mit einer gehörigen Portion Selbstvertrauen, einer Prise Übermut und viel Abenteuerlust begann vor 7 Tagen meine Reise. Nur mein Rucksack und ich – und zum Glück gute Schuhe. Es ist Sonntag, die Geschäfte sind geschlossen, aber in jedem kleinen Ort ist Markt und ich komme an Wasser und Obst als kleine Stärkung für unterwegs. Die Sonne brennt regelrecht und es gibt kaum Schatten auf meiner Strecke. Noch mal richtig quälen. Rund 10 km vor Ende meiner Wanderung beginnt es permanent bergauf zu gehen. Santiago de Compostela liegt auf einem Hügel. Es wäre auch zu leicht gewesen, einfach nur anzukommen. Ich beiße die Zähne zusammen und gehe die letzten Tage in meinem Kopf durch. Begreifen kann ich das alles noch nicht. Ein mir bisher unbekanntes Gefühl breitet sich aus. Knapp 2 Stunden später verstehe ich es.


Erklären kann man das nicht


In meinem Reiseführer steht, dass jeder Pilger auf seiner Reise mindestens einmal weinen wird

16:30 Uhr. Kathedrale von Santiago de Compostela. Die Kirche über dem Grab von Apostel Jakobus, das Ziel eines jeden Pilgers, steht prachtvoll und atemberaubend schön vor mir. Aus allen Himmelsrichtungen kommen die Pilger der unterschiedlichen Jakobswege und treffen hier aufeinander. Menschen fallen sich in die Arme, Fotos werden gemacht. Trotz des Treibens schwebt eine beruhigende, geradezu mystisch erscheinende Ehrfurcht über dem Vorplatz. Die Hitze der letzten Stunden hat mich viel Kraft gekostet. Um Konzentration zu behalten, musste ich in den Tunnelmodus schalten und merke, wie ich diesen langsam verlasse. Mein ganzer Körper schmerzt, ich will nur noch sitzen. Ich suche mir ein schattiges Fleckchen in der hintersten Ecke des Platzes und bestaune das beeindruckende Bauwerk vor mir. Ich empfinde Erschöpfung, Erleichterung, aber auch Wehmut darüber, dass es vorbei ist, Stolz auf das Geleistete, innere Zufriedenheit und pure Glückseligkeit. Ich fange unkontrolliert an zu weinen. Es ist mir egal und ich lasse alle Emotionen raus.


Nach einigen Minuten ist das Gefühlschaos vorbei und ich bemerke, dass ich nicht der einzige bin, dem es so geht. Erst Monate später werde ich in Hape Kerkelings Buch ‚Ich bin dann mal weg‘ die Sätze lesen: „In meinem Reiseführer steht, dass jeder Pilger auf seiner Reise mindestens einmal weinen wird. Bitte nicht gleich am ersten Tag“. Bei mir war es der letzte...


 
 
 

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