100 Kilometer in 24 Stunden - Wenn Wandern zum Extrem wird
- Daniel

- 1. Aug. 2022
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Dez. 2022
Erzählt mir jemand begeistert von einer Idee, kann es passieren, dass ich euphorisch einstimme und mich sofort anstecken lasse. Handelt es sich dabei um einen Ultralauf wie den Mammutmarsch, kann es passieren, dass ich eine viel zu schnelle Zusage gebe, ohne alle Details zu kennen. Aber hey - wenn andere das schaffen, packe ich das schließlich auch. Oder hab ich mir doch zu viel zugetraut?

Zugegeben, ich bin recht fit und sportlich, bemühe mich um eine halbwegs gesunde Ernährung und habe ein Selbstvertrauen, das hin und wieder von Übermut nur schwer zu unterscheiden ist. Ich habe bereits mehrtägige Wanderungen über 225 und 280 Kilometer absolviert und erfreue mich an neuen Herausforderungen. Motivation war noch nie mein Problem. Als ich jedoch am Abend vor meinem ersten Mammutmarsch in München die Strecke zum gefühlt hundertsten Mal ansehe, wird mir doch etwas mulmig. Zu schier grenzenloser Vorfreude gesellt sich großer Respekt vor der morgigen Aufgabe.
Das etwas zu schnelle Ja
Willst du schnell gehen, geh allein. Willst du weit gehen, geh mit anderen
Vermutlich hat das jeder schon mal erlebt. Man unterhält sich mit Freunden über Ziele und Wünsche. Je später der Abend wird, desto intensiver und konkreter werden die Vorstellungen und ehe man sich versieht, hat man ein neues Vorhaben laut ausgesprochen, ohne genau zu wissen, wann und wie man das umsetzen möchte. Die Crux aus psychologischer Sicht ist, dass man laut ausgesprochene Ideen auch umsetzen möchte. Hierin liegt auch ein großer Vorteil. Denn hat man erst mal anderen Menschen von seinem Vorhaben erzählt, möchte man sich keine Blöße geben und setzt alles Mögliche in Bewegung, um ans Ziel zu kommen.
So geht es auch mir, als ich davon erzähle, dass ich nächstes Jahr weitere Strecken als bisher und meine längste Fernwanderung, nämlich von Berlin zur Zugspitze, in Angriff nehmen möchte (hierzu mehr in einem anderen Post). Plötzlich höre ich die Wörter "Mammutmarsch" und "100 Kilometer in 24 Stunden". Ich bin spontan begeistert. Das will das auch. Schließlich benötige ich einige Trainingsläufe für meine große Challenge. Da macht sich solch ein Lauf wirklich gut. Und 60 Kilometer am Stück kenne ich bereits.
Wie soll man denn dafür trainieren?
Schnell stellt sich die Frage, an welcher Veranstaltung genau ich teilnehmen möchte. Mammutmärsche finden schließlich deutschlandweit statt. Meine Heimatstadt kenne ich, das fällt aus. Wenn schon Tag und Nacht wandern, dann gern bei angenehmen Temperaturen, damit ich nicht unnötig viele Klamotten mitnehmen und mich andauernd umziehen muss. Da kommt mir das Startdatum Ende Juli in München recht. Noch neun Monate Zeit mich darauf vorzubereiten. Also plane ich mein Jahr, laufe einige 40er und 50er und merke schnell, dass mehr nicht notwendig ist. Die 100 km sollen schließlich eine Herausforderung sein. Was soll ich da vorher schon 70 km oder mehr laufen? Und so gehe ich entspannt in den Juli. Die Ausrüstung ist komplett, meine Stirnlampe für die Nacht hat ausreichend Akku und die Powerbank ist randvoll. Was soll da noch schief gehen?
In der Theorie alles ganz einfach.
Die meisten machen nach 45 Kilometern schlapp. Wer die 70km geschafft hat, kommt meist auch im Ziel an.
Als regelmäßiger Wanderer habe ich inzwischen eine konstante Geschwindigkeit von über 5 km/h, auch auf längeren Touren. Um auszurechnen, ob die 100 Kilometer in der vorgegebenen Zeit von 24 Stunden zu schaffen sind, dient diese Durchschnittsgeschwindigkeit als Referenz. Ich ziehe allerdings etwas ab, da ich vielleicht über die Zeit langsamer werde und komme auf eine reine Laufzeit von 20 Stunden. Bleiben mir vier Stunden für Pausen. Das erscheint mir viel. Da ich alle 4 Stunden bzw. alle 20 Kilometer eine 30-minütige Pause plane, müsste ich nach 22 Stunden im Ziel ankommen.
Tag der Entscheidung

Es ist Samstag, 13 Uhr. Trotz praller Sonne über dem Münchener Sportplatz sind es nur 24 Grad – perfektes Wanderwetter. Die Nacht soll mit 15 Grad angenehm mild werden. Ich spüre, wie mein Körper die Kohlenhydrate meines Nudelgerichts, das mir mittags die nötige Energie liefern sollte, verarbeitet. Ein letztes Mal überprüfe ich, ob ich alles habe. Powerriegel für die regelmäßige Energiezufuhr, 2 Liter Wasser, mit denen ich bis zum ersten Verpflegungspunkt nach 20km locker auskommen sollte und eine Jacke für die Nacht. Als Hobby-Langstreckenläufer weiß ich mittlerweile, dass jedes unnötige Gramm Gewicht zur unnötigen Qual wird. Der Startschuss fällt und das Event-Team verabschiedet uns 'Mammuts' mit den Worten „bis gleich“. Ich bin guter Dinge und hochmotiviert, finde den Ausspruch des Veranstalters amüsant und freue mich wie Bolle auf die nächsten 24 Stunden.
Wandern ist nicht gleich wandern
Um mich herum sehe ich hunderte weitere Wanderer. Alle im Extrem-Modus. Von meiner Recherche her weiß ich, dass nur etwa 30% ins Ziel kommen, alle anderen geben vorher auf oder müssen ihrem Körper Tribut zollen und abbrechen. Daran denke ich nicht und laufe los. Die ersten 20 Kilometer geht es raus aus München durch kleine Wälder und über idyllische Feldwege. Die Zeit vergeht wie im Flug, die Sonne scheint. Langweilig kann es auch nicht werden, denn die Startwelle ist noch gut zusammen, da sie sich stillschweigend auf ein für alle gutes Tempo geeinigt hat. Natürlich höre ich andauernd Gespräche von anderen mit und steige in kurze Unterhaltungen ein. Die Stimmung ist gut – man lacht viel. Alltägliche Themen werden bis ins Detail besprochen - man hat ja Zeit. Meine Lauf-App sagt mir, dass ich gut im Tempo bin. Nach knapp 4 Stunden erreiche ich den ersten Verpflegungspunkt. Ich fülle meine Trinkblase auf und nehme mir ein wenig Obst und kleine Snacks. Zeit für eine kurze Pause. Ich achte sehr auf meine Füße und gebe ihnen die nötige Erholung. Nach knapp 30 Minuten im Gras sitzend und meine Füße mit Creme und Puder pflegend, mache ich mich wieder auf den Weg.
Auf den nächsten 23 Kilometern ändert sich lediglich die Helligkeit des natürlichen Lichts, ansonsten ist alles wie gehabt. Was soll auf den ersten 40 Kilometern schon groß passieren – ab 60 wird es interessant. Gegen 22:30 erreiche ich einen Sportplatz in der Nähe von Starnberg. Der zweite Verpflegungspunkt. Es ist mittlerweile stockdunkel, das Flutlicht gibt der Szene einen beinahe gruseligen Touch. Mein Körper fühlt sich gut an. Es gibt Salzgurken und Powerriegel, Bananen und Milchbrötchen. Schnelle Energie, über die sich mein Körper freut. Das Adrenalin ist hoch und lässt mich bisher keine Müdigkeit spüren, aber das wird noch kommen. Daher wärmt mich ein heißer Kaffee von innen und gibt mir ein gutes Gefühl. Es ist zwar nicht kalt, aber ich ziehe mir vorsichtshalber etwas warmes an. Kühle ich aus, macht das Laufen keinen Spaß. Um mich herum sehe ich die ersten, denen es bereits schlecht geht. Offene Blasen und blutige Füße als Folge falscher Schuh- und Sockenwahl zwingen leider die ersten zum Aufgeben. Die nächsten 40 Minuten widme ich wieder komplett meinen Füßen. In 8 Stunden wird es hell.
Still ruht der Starnberger See
Am dunkelsten ist die Nacht vor der Dämmerung
Wenn mir neben der Gesamtstrecke von 100 Kilometern im Vorfeld etwas Sorgen gemacht hat, dann die Tatsache, dass ich die komplette Nacht durchlaufe. Ich hatte mich landschaftlich sehr auf die Gegend rund um den Starnberger See gefreut, stehe nun gegen Mitternacht vor ihm und kann mich am Ausblick mal so gar nicht erfreuen. Die Stille bringt etwas mystisches mit sich. Ich genieße ein paar Minuten, mache mich aber schnell wieder auf den Weg. Ich möchte nicht aus dem Tempo kommen. Die Strecke führt überwiegend an beleuchteten Wegen entlang und ich habe kaum Höhenmeter zu bewältigen. Die nächsten 4 Stunden bin ich in einem sturen Automatismus. Ein Fuß vor den anderen. Gut so, denn die Dunkelheit ist langweilig. Wurde vorher noch viel gesprochen, läuft die mittlerweile auseinander gezerrte Gruppe überwiegend schweigend vor sich hin. Viele beginnen bereits mit dem inneren Schweinehund zu kämpfen.
Hier beginnt das Unbekannte – nicht nur für mich
3:30 Uhr. Am dritten Verpflegungspunkt hat eine Turnhalle für alle 'Mammuts' geöffnet. Trotz meiner vor Stunden aufgekommenen Müdigkeit bin ich plötzlich hellwach, bietet sich mir doch ein Bild des Schreckens. Kerle mit Beinen wie Baumstämme, durchtrainierte Menschen mit Bundeswehr-Equipment und sportliche Wettkämpfer liegen zum Teil leise winselnd und stöhnend auf dem Boden. Die medizinischen Hilfskräfte scheinen kaum hinterher zu kommen. Meist handelt es sich nicht um schlimme Verletzungen. Viele sind einfach komplett mit ihren Kräften am Ende, ausgepowert, müde, dehydriert und völlig erschöpft. Bei einigen sind es aber auch völlig zerstörte Füße. Es zeigt sich, dass viele die Belastung unterschätzt haben.
Ich versuche das Elend um mich herum auszublenden und verbringe meine Pause lieber draußen. Eine warme Suppe ist die perfekte Abwechslung zu dem ganzen Kraftfutter, dass ich mir seit Stunden in regelmäßigen Abständen in den Mund stopfe. Ich kann den Kram nicht mehr sehen, weiß aber, dass er wichtig ist. Mein Energielevel ist hoch, die Nacht macht mir bisher keine Probleme. Gut 60km sind geschafft, ab jetzt kommt das Neue auf mich zu. Ich rede mir ein, dass ich bereits mehr als die Hälfte geschafft habe, es bald hell wird und München zum Sonnenaufgang großartig aussehen wird.
Leider führt der Weg bis zum Sonnenaufgang durch einen dunklen Wald. Nur noch wenige andere Wanderer sind in meinem unmittelbaren Umfeld. Der Lichtkegel meiner Stirnlampe erhellt lediglich wenige Meter vor mir. Es knirscht und raschelt um mich herum. So macht wandern nur bedingt Spaß. Mir fallen frühere Begegnungen im Dunkeln mit Wildschweinen und Rehen ein und ich versuche die Gedanken ganz weit weg zu schieben. Warum muss ich jetzt auch an so was denken? Nach 120 Minuten ist der Spuk vorbei und die Sonne erhellt Stück für Stück den Himmel. Eine Wohltat. Freude breitet sich aus, denn ich weiß, jetzt ist es nicht mehr weit. Denkste! Der Blick auf meine App verrät mir, dass ich noch 30 km vor mir habe. Das sind ohne Pausen noch 6 Stunden. Und das nur, wenn ich nicht langsamer werde. Es kostet mich viel Kraft meine positive Energie aufrecht zu halten.
Münchens schönstes Gewand

Mit inzwischen deutlich verlangsamter Geschwindigkeit führt mich der Weg die Isar entlang. Welch toller Blick auf einen der klarsten und schönsten Flüsse Deutschlands. Meine Laune steigt, obwohl jetzt alles wehtut. Seit Stunden merke ich zunehmend das Gewicht meines Rucksacks auf meinen Schultern. Um Ballast zu verringern, fülle ich meine Trinkblase an den Verpflegungspunkten nur noch zur Hälfte. Das muss reichen, rede ich mir ein. 75 km sind rum und meine Füße und Hüften tun weh. Der Schmerz kam unverhofft schnell und machte sich sofort im ganzen Körper breit.
Ab jetzt geht es quer durch die Stadt: Marienplatz, Eisbach, Maxvorstadt. Ich schleppe mich nur noch von Kilometer zu Kilometer. ‚Aufgeben ist keine Option‘ lautet nach wie vor die Devise. Es fällt mir jedoch immer schwerer daran zu glauben. Nach 80 Kilometern soll eigentlich der nächste Pausenstand kommen, doch es kommt nichts, außer hartem Asphalt unter meinen Füßen. Genießen kann ich München nicht. Erst 4km später endlich der nächste Pausenpunkt, an dem ich noch mal für die letzten gut 3 Stunden durchatmen kann.
Bist du so weit gekommen, läufst du weiter und weiter. Was ist denn auch die Alternative? Umdrehen?
Warum tut man sich das nur an?
Aus den geplanten 180 Minuten werden quälend lange 5 Stunden. Mein Tempo halbiert sich fast. Die gute Laune ist irgendwo in Grünwald hängengeblieben und konnte mir nicht mehr folgen. Ich schwitze ohne Ende, denn die Sonne knallt, jetzt da es fast mittags ist, unerbittlich. Kurz vor dem Ende der Strecke kommen mir die ersten entgegen, die bereits vor einiger Zeit im Ziel angekommen sind. Sie feuern jeden an, der noch auf dem Weg ist und sprechen Mut zu. Die Noch-nicht-Finisher antworten mit Gratulationen und beglückwünschen alle Medaillenträger. Ich stelle mir vor, wie ich in wenigen Augenblicken meine Medaille in den Händen halte. Das Träumen zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht.
Was ich die letzten 3km mache, hat wenig mit Laufen und schon gar nichts mit Wandern zu tun. Ich marschiere nicht mehr, ich schleiche nur noch und lasse meinen Körper bei jedem Schritt absichtlich nach vorn fallen, um den Schwung mitzunehmen, da ich mir einbilde so energiesparender voranzukommen. Der Durst wird größer, Hunger habe ich auch. Aber ich kann die Energieriegel nicht mehr sehen. Gleich ist es geschafft!
Das ist der Grund, warum ich das mache

Sonntag, 13 Uhr. Völlig erschöpft erreiche ich den Ort, an dem ich von 23 Stunden mit den Worten ‚bis gleich‘ verabschiedet wurde. Meine Fitness-App zeigt mir knapp 103 Kilometer an. Ich kann es kaum glauben, dass ich es tatsächlich geschafft habe. Euphorie überwältigt mich. Mir wird eine Medaille um den Hals gehängt und die Worte der Volunteer „Du hast es tatsächlich geschafft – sei stolz auf dich“ lassen mir Tränen in die Augen schießen.
Ich hole mein wohlverdientes Finisher-Bier ab und setze mich fernab des Trubels in eine ruhige Ecke auf die Wiese. Die Schuhe habe ich mittlerweile ausgezogen und stelle überrascht fest, dass ich keine einzige Blase habe. Aber Schmerzen. Mir wird langsam bewusst, was mein Körper geleistet und mein Kopf überwunden hat. Das Gefühl des Finishers steigt in mir auf. Ein Mix aus Stolz, Erschöpfung, Freude, purem Glück und unendlicher Zufriedenheit. Ich lege mich auf den Rasen und schaue in den Himmel, bis dieser aufgrund meiner Tränen zunehmend verschwimmt.


































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